Durchschnittsalter 35 Jahre. Das sind die neuen engagierten Investorinnen und Investoren
cash.ch: Frau Wines, Sie wurden als eine von den «Top 100 Women of the Future» ernannt. Wie kommt man auf eine solche Liste?
Jennifer Wines: Die Liste enthält Frauen weltweit, denen man die Wirkung einer Mission zutraut und die sich auf zukunftsbasierte Themen wie Metaverse, Kryptowährungen oder Frauenförderung fokussieren. Diese Frauen sind auf eine Art und Weise Veränderer in ihren Wirkungsbereichen. Die Liste wurde im letzten Jahr zum ersten Mal zusammengestellt.
Ist das der Grund, weshalb Sie ans WEF nach Davos kommen?
Unter anderem. Ich habe 2019 zum ersten Mal am WEF teilgenommen und mich damals auf philanthropische Initiativen konzentriert. 2020 wurde die Gruppe "100 Women@Davos“ gegründet. Diese Gruppe arbeitet beim diesjährigen WEF mit Female Quotient (einem Unternehmen für Gleichstellungsdienste, Anm. d. Red.) zusammen. Und natürlich werde ich in Davos auf Panels und Podcasts auch über das Thema meines Buches sprechen, das im Mai erscheint und den Titel «Invisible Wealth» trägt.
Sie arbeiteten bei den weltgrössten Vermögensverwaltern im Private Banking. Weshalb haben Sie die Finanzindustrie verlassen?
Ich war über zehn Jahre bei Goldman Sachs, JP Morgan und Fidelity tätig. Ich habe grosse Hochachtung für diese Unternehmen. Ich habe allerdings bemerkt, dass sich die Unterhaltungen mit Kunden, mit Freunden und auch mit mir selber veränderten. Ich beobachtete, dass die Leute immer mehr nach Werten gerichtet investieren. Ebenso, dass sich immer mehr Frauen und jüngere Leute in die Finanzmärkte investieren. Ich interessierte mich zugleich auch immer mehr für Technologien und wie diese zur Demokratisierung der Finanzmärkte beitragen. Es gibt so viele Veränderungen derzeit. Um dies alles zu verstehen, braucht es Zeit und Recherche. Und ich entschied mich, meine Zeit der Zukunft der Vermögensentwicklung zu widmen und begann mit dem Schreiben meines Buches. Die Pandemie trug sicher dazu bei, diesen Schritt zu vollziehen.
Sie versuchen, die Begriffe Vermögen oder Reichtum neu zu definieren. Was ist denn die traditionelle Definition der Begriffe?
Man ist vermögend, wenn man viel Geld hat. Das ist wohl die gängigste traditionelle Definition von Vermögen. Aber Vermögen und Reichtum gehen über den finanziellen Aspekt hinaus. Für viele Leute zählen auch Beziehungen zur Familie, Freundschaften oder Gesundheit zum Vermögen. Das englische Wort “Wealth” tauchte zum ersten Mal im 13. Jahrhundert auf und bedeutete damals “Wohlbefinden”. Ich glaube, Wohlbefinden ist tatsächlich der Ursprung von Vermögen und Reichtum. Klar, Geld regelt die wichtigsten Dinge im Leben. Aber zum Vermögen gehören auch Beziehungen, Wissen, Erfahrung und so weiter. Wir müssen uns mehr Gedanken machen zur Bedeutung und Begriff von Vermögen.
Sie glauben, dass es einen Paradigmenwechsel in Bezug darauf gibt und geben muss, wie Reichtum wahrgenommen und definiert wird. Spielt die Pandemie eine Rolle?
Ich glaube schon. Die Pandemie hat uns zum Nachdenken gebracht. Wir haben uns Fragen zu Werten gestellt. Was und warum ist etwas für uns wertvoll? Und indem man sich solche Fragen zu Werten stellt, sieht man Vermögen auch anders. Denn Reichtum ist ein Derivat von Werten.
Investieren vermögende Leute heute denn nun grundlegend anders als früher?
Ja. Themen wie ESG und Nachhaltigkeit sind in den letzten drei Jahren immer wichtiger geworden. Reiche Leute und auch jüngere Investorinnen und Investoren, die noch nicht so viel Vermögen besitzen, denken beim Investieren an beide Seiten der Münze. Einerseits an die quantitative Seite, das heisst die Zahlen, andererseits aber auch an qualitative Seite mit Fragen wie: Was macht dieses Unternehmen wirklich? Schädigt es die Umwelt?
ESG wird aber auch als Marketing-Vehikel der Banken kritisiert, es kam zu Greenwashing-Skandalen, weil Produkte als ESG-konform verkauft wurden, die es gar nicht waren…
Es gibt einige schlechte Akteure in der Branche, aber die Wahrheit kommt immer ans Licht. Das wird die Integrität der Mission nicht negativ beeinflussen. Schauen Sie, es strömen viele neue Leute in die Investment-Szene. Sie haben ein Durchschnittsalter von etwa 35 Jahren. Das sind die neuen Investorinnen und Investoren mit Engagement. Es wurden in den zwei Jahren nach Ausbruch der Pandemie in den USA 25 Millionen neue Trading-Konten eröffnet. Diese Leute wollen eine aktivere Rolle beim Investieren einnehmen. Sie werden in Unternehmen investieren, an die sie glauben. Das erhöht den Druck auf die Unternehmen, die richtigen Dinge zu tun.
Tatsache ist auch, dass in der Pandemie gerade auch wegen der vielen neuen Trader der Trend zu Meme-Stocks aufkam. Das ist schnelles, old-school Profit-Denken und hat nichts mit Nachhaltigkeit zu tun.
Das stimmt. Und es stimmt auch, dass dies kein nachhaltiges Investieren ist. Ich glaube auch, dass einige Leute dabei ihre Lektion gelernt haben.
Nehmen wir an, ich hätte eine Million Franken oder Dollar zu investieren. Was würden Sie als Investment-Profi mir raten?
Da stellt sich zunächst die Frage: Warum wollen Sie investieren? Dann: Was ist Ihr Zeithorizont? Welches ist Ihre Risikotoleranz? Wie hoch ist Ihr Einkommen und wie hoch Ihre Ausgaben? Eine Faustregel für Vermögensverwalter ist immer das Cash-Polster, das man zur Seite haben sollte. Typischerweise sind das sechs Monatslöhne. Falls die Staatsangestellter sind, kann es weniger sein. Falls Sie in einem Risikoberuf tätig sind, etwa in der Krypto-Branche, sollte dies etwas mehr sein. Angesichts der veränderten Rahmenbedingungen an den Märkten und wegen der Volatilität würde ich persönlich dieses Cash-Polster ebenfalls erhöhen.
Und dann, nach Abzug des Cash-Polsters?
Wenn Ihr Anlagehorizont lange ist, dann sind vor allem Aktien vorzuziehen. Das traditionelle 60/40-Anlageportfolio mit 60 Prozent der Anlagen in Aktien und 40 Prozent in Obligationen verlangt meiner Meinung sicher nach einer Neubeurteilung. Dazu gibt es neue Anlageformen. Wir stecken derzeit in einem Observations-Modus, wohin sich die Märkte entwickeln.
Ist das Anlegen schwieriger geworden?
Aus Rendite-Sicht, ja. Das ist der Grund, weshalb die Privatmärkte für mehr und mehr Anlegerinnen und Anleger interessant wurden. Diese Märkte sind offener und aus Investorensicht demokratischer geworden, weil es mittlerweile zahlreiche Online-Möglichkeiten für Retail-Investoren gibt. In der Vergangenheit haben Privatmärkte auch die besseren Renditen erzielt als die öffentlichen Märkte.
Sie kennen aus Ihrer Beratertätigkeit sehr viele wohlhabende Leute: Wie reagieren diese in Zeiten eines Crashes?
Das ist sehr unterschiedlich. Viele bleiben ruhig im Wissen, dass sie sehr langfristig investiert sind. Andere reagieren sehr nervös, was verständlich ist. Finanzielle Sicherheit ist wichtig für Menschen. Ich hatte mal eine Kunden, Anfang 40, mit rund 20 Millionen Dollar Vermögen. Er hatte Panik davor, seinen Job zu kündigen. Weil er das Gefühl hatte, keine Anstellung mehr zu finden. Er war sehr gut ausgebildet und gut vernetzt. Aber nicht einmal mit der Sicherheit von 20 Millionen Dollar im Rücken war er bereit zur Kündigung.
Jennifer Wines wurde im Mexiko als Tochter einer irischen Mutter und eines mexikanischen Vaters geboren. Sie liess sich in Boston und in Chicago als Juristin und Vermögensberaterin ausbilden und arbeitete danach in New York bei Goldman Sachs, JP Morgan und Fidelity. Sie verliess im April 2022 die Finanzindustrie und arbeitet seither als Buchautorin und als Beraterin. Wines lebt in Miami.